Der Leserbrief von Herrn Lenz beginnt wie ein leidenschaftliches Plädoyer für attraktive Radwege – doch überraschenderweise kommt er zu dem Schluss, dass der aktuelle Bestand ausreichend sei. Genau diese Wendung reizt zu einer fundierten Gegenposition: Die genannten Gefahren wie Flickenteppiche, kreuzungsbedingte Risiken und dominanter Autoverkehr sind keine Gründe gegen, sondern für eine verbesserte Fahrradinfrastruktur.
Diesen Ansatz stützen Städte weltweit – und auch wissenschaftliche Daten.
Internationale Erfolgsbeispiele
Kopenhagen
- Zwischen 2002 und 2012 verfolgte Kopenhagen mit dem Cycle Policy-Programm ambitionierte Ziele: Der Anteil der Pendler:innen mit dem Rad sollte von 34 % auf 40 % steigen. Bis 2014 erreichte man sogar 45 % – ein klares Zeichen für den Erfolg der Maßnahmen .
- Die aktuelle Strategie “Good, Better, Best” zielt bis 2025 auf über 50 % Radanteil ab und setzt auf Komfort, Sicherheit, Geschwindigkeitsvorteile und bessere Parkinfrastruktur .
- Die wirtschaftlichen und gesundheitlichen Effekte sind beachtlich: Jeder Radkilometer bringt der Gesellschaft netto einen Gewinn (1,22 DKK vs. Verlust mit Auto), plus reduzierte Gesundheitskosten und Produktivitätsgewinne .
Paris – großes Radwegenetz zahlt sich aus
Mit dem Plan vélo 2015–2020 investierte die Stadt 150 Mio. €, verdoppelte das Radwegenetz, unterstützte E-Bike-Käufe und baute Fahrradparkplätze. Das Ergebnis: ein Anstieg des Radverkehrs um 47 % zwischen 2019 und 2020, teilweise bis zu 60 % auf bestimmten Routen. Bis 2021 war das Netzwerk bereits über 1.000 km groß .
Pop-up-Radwege nach Corona
Eine Studie des Mercator Research Institute (MCC) zeigt: In europäischen Städten führte der kurzzeitig installierte Pop-up‑Radweg‑Ausbau nach dem Lockdown zu einer Zunahme des Radverkehrs von 11 % bis 48 % . Eine ergänzende Analyse ermittelte, dass bereits 1 km temporäre Radspur den innerstädtischen Radverkehr um etwa 0,6 % steigert – und jährlich rund 2,3 Mrd. $ an gesundheitlichen Vorteilen schaffen kann .
Schottland im Aufwind
In Edinburgh stiegen die Radpendler:innen auf 10 % – mit segregierten Radwegen wie dem City Centre West–East Link. Glasgow erzielte auf der Süd-Stadtspur sogar eine Nutzung von 15 % in Pendelzeiten. Dort, wo keine Trennung besteht, sinkt der Anteil auf nur 1,5 %. Sicherheit als entscheidende Motivation, sagt Keith Irving (Cycling Scotland) .
Wissenschaftliche Erkenntnisse unterstützen den Ausbau
- Induzierte Nachfrage durch Infrastruktur: Eine Simulationsstudie für Kopenhagen kommt zu dem Schluss, dass das dichte Radwegenetz dort Radfahrten um 60 % und gefahrene Fahrradkilometer um 90 % erhöht hat. Jeder Kilometer Radweg erzeugt einen Jahresnutzen von rund 0,4 Mio. € durch reduzierte Kosten von Gesundheitswesen, Unfällen und subjektivem Aufwand .
- Sicherheit durch Infrastruktur: Studien zeigen, dass geschützte Radstreifen (cycle tracks) das Unfallrisiko um 50–60 % senken im Vergleich zu geteilten Flächen oder dem Miteinander mit dem Autoverkehr .
- Perceived Risk: Eine Schlüsselbarriere für Radpendelnde ist die subjektiv empfundene Gefahr. Gute Infrastruktur erhöht das Sicherheitsgefühl deutlich – etwa durch grün markierte Wege, die die gefühlte Sicherheit um etwa 10 % steigern können .
Fazit – Warum Gießen handeln sollte
Problem im Leserbrief | Wissenschaftlicher Gegenwert |
Schlechte Straßen, Flickenteppiche | Erhöhen reales und subjektives Unfallrisiko > sichere Infrastruktur reduziert beides deutlich. |
Risiko an Kreuzungen, viele Autos | Segregierte Radwege verringern Kollisionen um bis zu 60 %. |
Radfahren zu anstrengend | Komfortable Radwege und E-Bike-Nutzung machen es attraktiver “auch für Ältere” |
Radfahren hat keine Zukunft | Städte wie Kopenhagen, Paris, Edinburgh zeigen: Mit Infrastruktur wird es Alltag auch klimafreundlich und gesund. |
Schlusswort
Der Leserbrief von Herrn Lenz entfachte den Wunsch nach Veränderung – wenn er sich gegen eine bessere Infrastruktur wendet, liefert er unfreiwillig starke Argumente dafür. In Gießen ist der aktuelle Radwegbestand eben nicht ausreichend: Nur mit sicherer, zusammenhängender, komfortabler Infrastruktur wird Radfahren zur echten Alternative – und zwar für alle. Die Erfahrung aus europäischen Städten zeigt: Wer baut, schafft Nutzer:innen – und gewinnt Umwelt, Gesundheit und Lebensqualität zugleich.